(Buchrezension über die neue Übersetzung von Dogen Zenji´s Sammlung von 301 Koan-Geschichten)
Jürgen Seggelke
Gudo Wafu Nishijima: Die Schatzkammer der wahren buddhistischen Weisheit – Dogen Zenji´s Sammlung von 301 Koan-Geschichten, erläutert von einem Meister der Gegenwart, W. Barth-Verlag 2005-11-16 448 Seiten, ISBN 3-502-61135-1
Wenn man jene tiefgründigen oft paradoxen buddhistischen Koan-Geschichten, – dies sind meist kurze Dialoge zwischen Meister und Schüler – `verstehen` oder jedenfalls besser verstehen will als bisher, sollte man diese Sammlung von 301 authentischen chinesischen Koans zu Rate ziehen. Sie wurden von dem wohl bedeutendsten japanischen Meister Dogen zusammengestellt und von dem lebenden Meisters Nishijima eingehend kommentiert. Meister Nishijima hat mehr als sechzig Jahre seines langen Lebens den Arbeiten von Dogen und den Werken zur Schatzkammer des wahren Dharma-Auges (Shobogenzo) gewidmet und auch dem Westen verfügbar gemacht. Er ist ein weltweit anerkannter Dogen-Kenner.
Aber kann man diese Koans mit dem verstandesmäßigen unterscheidenden Denken restlos verstehen? Sicher nicht! Und dies ist der zentrale Kern der Koan-Geschichten. Nishijima erläutert in seinen Kommentaren an vielen Beispielen, dass man der Wirklichkeit im Leben nur näher kommen kann, wenn die drei folgenden Bereiche in einem ausgewogenen Einklang sind, nämlich Ideen und Vorstellungen, körperliche und materielle Sichtweisen und Handeln im Augenblick, nicht zuletzt in der Zen-Meditation. Die Koan-Geschichten beginnen häufig mit einer theoretischen, ja hochgestochenen Frage eines intelligenten Schülers. Der Meister kommt dann auf das konkrete Hier und Jetzt und nähert sich damit der Wirklichkeit. Wenn der Schüler diesem Schritt folgen kann, kommt der Meister zum Kern der Frage, sonst wird der Dialog vom Meister meist abgebrochen. Der Schüler muss dann seinen eigenen Weg in der Praxis des Lebens finden oder einen anderen Meister suchen. Manchmal kann der Meister zu recht drastischen und plötzlichen Handlungen greifen, indem er z. B. dem Schüler einen Schlag mit dem Zenstock versetzt, ihm schmerzhaft die Nase verdreht oder am Ohr zieht. Dadurch kann es im richtigen Augenblick gelingen, dass der Schüler aus der Falle des Verstandes und der abstrakten Vorstellungen herausspringt, und dass sich im Bruchteil einer Sekunde intuitiv die Wirklichkeit für ihn öffnet. Und diese Wirklichkeit lässt sich nicht mit dem unterscheidenden Verstand und mit Worten vollständig erfassen, denn sie ist unteilbar und umfassend. Es kommt aber auch vor, dass der Schüler eine wirklichkeitsnahe Aussage findet, die vielleicht treffender als die des Meisters ist. Es spricht dann für die Größe des Meisters, dass er dies freimütig anerkennt.
Meister Nishijima erliegt nicht der Gefahr, die Koans zu mystifizieren und unnötig hoch zu stilisieren. Er gibt erstaunlich klare Kommentare, die dem Leser einen konstruktiven Zugang eröffnen und er warnt uns davor, weder in die Falle der einseitigen Theorien noch der Praxis ohne jede buddhistische Lehre zu tappen. In der Tat sind diese Fallen immer in unserem Leben aufgestellt. Das konkrete Handeln in der Meditation und nicht zuletzt im Alltag muss noch hinzukommen, dann können wir in der Wirklichkeit ankommen, so dass diese Fallen nicht greifen können.
Mit diesem Buch liegt eine kommentierte Sammlung der wichtigsten Koan-Geschichten von Meister Dogen zum ersten Mal in deutscher Sprache vor. Dagmar Doko Waskönig kommt das Verdienst der deutschen Bearbeitung aus dem Englischen zu, dabei hat sie die Koan-Texte mit dem Chinesischen abgeglichen. Ein wertvolles, tiefgründiges und zugleich schnörkelloses Dokument des Buddhismus. Angemerkt sei noch, dass einige dieser Koans im Shobogenzo von Meister Dogen selbst vertieft behandelt werden, zwei Bände dieses Werkes sind in Deutsch herausgekommen, ein dritter ist in Vorbereitung.
Jürgen Seggelke