(Aus: Buddhismus aktuell 4/2011)
Dagmar Doko Waskönig
Ba: Zen und Achtsamkeit erscheint mir fast wie eine Tautologie, oder, wenn man „Zen und Achtsamkeit“ im Internet eingibt, kommen aberhunderte von Einträgen. Wieso erscheinen Zen und Achtsamkeit so zentral verbunden, da doch Achtsamkeit in anderen Traditionen oft nur eine von verschiedenen Übungen ist?
DDW: Ein kurzer Blick auf die von dir angesprochenen Internet-Einträge scheint mir zu bestätigen, dass der Begriff Achtsamkeit kaum im Zusammenhang mit unserer japanischen Zen-Tradition auftaucht. Er scheint aber geradezu in Mode gekommen zu sein, freilich auf der Basis zweier anderer Entwicklungen: einerseits durch das Programm zur Stress-Reduktion (MBSR), das vor einem Theravada-Hintergrund entstand, und andererseits durch die so genannte Dhyana-Praxis, wie sie der vietnamesische Lehrer Thich Nhat Hanh entwickelt hat und die etwas anders aufgefasst wird als unser Weg.
Zen, so scheint mir, ist nicht daraufhin angelegt, eine Fähigkeit gesondert zu üben. Wie im konzentrierten Sitzen des Zazen in der Dogen-Tradition, von der ich vor allem rede, alle Elemente des Buddha-Pfades enthalten sein sollten, so ist es auch bei den übrigen körperlichen und geistigen Aktivitäten. Vielleicht mag es Dich überraschen, aber ich habe diesen Begriff von meinen Lehrern eher selten zu hören bekommen und benutze ihn selbst auch nicht oft. Sagen wir konkret z.B.: „Arbeite ganz achtsam“ oder aber: „Arbeite völlig konzentriert“?
Es ist also eher der Begriff Konzentration, dem eine wichtige, auch motivierende Funktion zukommt. Damit ist ein Gesammeltsein des Körper/Geistes (Samadhi) gemeint – auf verschiedenen Ebenen -, worin viele andere heilsame Qualitäten enthalten sind. Natürlich ist auch das integriert, was man anderswo als Achtsamkeit (Sati) in den Fokus stellt. Trennscharf unterschieden wird dabei wohl nicht.
Ba: Im Kloster in Japan haben wir extrem viel körperlich gearbeitet, außerhalb der ZazenPerioden, Rezitationen und Essenszeiten gab es sonst nichts anderes; die ganze Konzentration war auf die Arbeit gerichtet. Das war für mich sehr heilsam. Du hast einmal etwas von deiner eigenen Erfahrung beim Kochen berichtet.
DDW: Es ist in der Tat so, dass körperliches Arbeiten in einem Zen-Kloster eine erstaunlich große Rolle spielt, was übrigens seine in China liegenden historischen Ursachen hat. Nur während der Sesshin, der Perioden intensiver Zazen-Praxis, ist das anders. Wenn ich aber bedenke, zu welchen Verfallserscheinungen das Nicht-Arbeiten der Mönche in den Theravada-Ländern weithin geführt hat, wie es Bhante Dhammika in seinem kürzlich erschienenen Buch Broken Buddha schildert, bin ich doch recht froh darüber, dass wir uns auch recht tatkräftig körperlich betätigen.
Aber natürlich kommt es darauf an, in welchem Geist gearbeitet wird. Arbeitet man nur ungern, weil man die Zeit lieber auf dem Kissen nutzen möchte, oder gar widerwillig, kann dies nicht zu einer heilsamen Erfahrung werden, von der du zu Recht sprichst. Ich selbst habe ja in etlichen Arbeitsbereichen intensiv gearbeitet. So war ich z.B. in einem Sommer für den Gemüsegarten des Klosters verantwortlich. Noch ohne eigentliche gärtnerische Erfahrung, doch glücklicherweise mit einem „grünen Daumen“ versehen, habe ich mich ganz der Aufgabe hingegeben, jenen Garten auf Vordermann zu bringen.
Mit dem Hinweis auf die Hingabe ist schon etwas angedeutet, das sich auf die Grundeinstellung des/der Arbeitenden bezieht: ein selbstverständliches Dienen aus der Bodhisattva-Motivation heraus, der natürliche Wunsch, sich dafür einzusetzen, dass die Übungsgemeinschaft, der Sangha, gute und abwechslungsreiche Nahrung bekommt, dass aber auch die Natur, die Pflanzen und ggf. die Tiere, in erster Linie die Insekten, möglichst „gut“ behandelt werden. Achtsames Handeln wird davon gestützt.
Achtsamkeit war dabei erst einmal nach außen gerichtet: auf die Pflanzen, die Bedingungen für ihr Gedeihen in extremer Hitze, auf die Früchte und die sonnenverbrannte Erde. Diese beobachtende Achtsamkeit ist indes auch hier keine isoliert geübte Fähigkeit. Die sich intensivierende wachsame geistige Präsenz hatte nicht allein ein sozusagen behutsameres Umgehen mit den Pflanzen zur Folge, brachte vielmehr ein zunehmendes Verstehen der konkreten Prozesse in der Natur mit sich, so dass die aktuelle Situation, vor allem der Zustand des Bodens und die Bewässerung, mit neuen Ideen verbessert werden konnte.
Auch dieser Arbeitsbereich des Klosters ermöglicht jene Momente, in denen achtsames Gegenwärtigsein in spürbar subtiler Weise das Herz berührt. So sind mir z.B. jene allmorgendlichen Augenblicke gut in Erinnerung, in denen ich der Köchin den Korb mit der täglichen Ernte übergab – ein schöner, ein reiner Moment der Begegnung zweier Menschen auf dem Weg.
Wie die Fähigkeit der Achtsamkeit sich gemäß der Lehre Buddhas in verschiedenen Phasen intensiviert und entsprechend tiefgründige Einsichten entstehen lässt, so kann dies auch hier geschehen. Elemente tiefer Erkenntnisse mögen dann wie von selbst im Bewusstsein auftauchen, was nur ein wenig anzudeuten ist: so ein wirkliches Gewahrwerden unserer Verbundenheit mit der äußeren Natur, ebenso der Abhängigkeit von ihr, das Unumgängliche des Zerstörens, Verbrauchens der Früchte, dazu das Nebeneinander der Freude einerseits und der vielen Mühe andererseits, die mit der Kultivierung des Landes einhergehen, oder gar das unaufhörliche Entstehen und Vergehen von Pflanzen und Tieren und auch der Menschen.
Lässt man sich derart auf die Aufgabe ein, sind die Momente, in denen Reste egozentrischen Wollens sich bemerkbar machen, doch recht selten und schwach ausgebildet, so dass der nun nach innen gewendete achtsame Geist sie bloß kurz wahrnehmen und dann überwinden kann. Ich erinnere mich daran, dass ich mir damals einige Male nach dem Abend-Zazen, wenn sich die anderen abgekämpft zur Nachtruhe begeben konnten, erst kurz einen Ruck geben musste, um bei einbrechender Dunkelheit noch in den Garten herunterzugehen, damit die vielen Gemüse-Reihen noch einmal gewässert werden konnten.
Ba: Du lehrst seit langer Zeit über das Shobogenzo Meister Dogens. Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem, was Dogen Zenji als „Erforschen“ bezeichnet und dem, was Achtsamkeit genannt werden könnte?
DDW: Ich denke schon. Es ist ja das gerichtete, völlig unabgelenkte Gewahrsein, mit dem z.B. das Sitzen in Zazen in seinen Phasen erforscht werden kann. Dabei werden sich Phasen des sich steigernden Bemühens abwechseln mit Phasen, wo man das Bemühen loslassen wird, mit Dogen ausgedrückt: das Sitzen dem Sitzen überlassen kann. Das ist die Zeit des sich Überlassens, des Zulassens eines noch subtileren Gewahrseins und Erforschens, das ein tief gewordenes Stillsein möglich macht.
Ba: Was leistet eine längere Periode der Meditation, wie z.B. ein Sesshin, für die Entwicklung von Achtsamkeit?
DDW: Die für den Übungsweg relevanten Fähigkeiten stabilisieren sich in Körper und Geist im Zeitverlauf deutlich stärker, als dies im gewöhnlichen Alltagsleben möglich sein wird, Konzentration und Achtsamkeit schärfen sich zusehends, so dass man spürt, wie sich die innere Verfassung wandelt, aus der heraus das Tun eine heilsame Qualität bekommt.
Die Bewusstheit kann brillant werden, die Sinneswahrnehmungen werden klarbewusst. Die Dinge können wir mit der für den Zen typischen Präzision benutzen, sie auch aus einer zentrierten Sensibilität heraus berühren, uns in eine Beziehung dazu setzen. Doch ist Achtsamkeit auch nach dem Ende solch einer Periode gefragt, um diese und andere Qualitäten nicht gleich wieder zu verlieren.
Ba: Ich war neulich in einem Seminar über das Satipatthana-Sutta, das Achtsamkeits-Sutra des frühen Buddhismus. Dort heißt es z.B., wenn der Mönch geht, dann weiß er, dass er geht, wenn er liegt, dann weiß er, dass er liegt usw. Es werden Körperteile betrachtet, später Gefühle, Geist und Dhammas, also die Daseinsgruppen, Sinnesbereiche und auch die Hindernisse. Warum und in wieweit ist der Zen-Ansatz anders?
DDW: Im Zen geht man nicht derart systematisch und analytisch vor, sondern gewissermaßen synthetisch. Aber im Grunde könnten alle Übungsfelder, die im Sutra nacheinander eingeführt werden, auch im Zen integriert werden, wenn man es denn tun möchte. Freilich werden dann nicht alle Teilaspekte gleichermaßen eine Rolle spielen, doch zumindest in der Lehre Meister Dogens ist viel mehr davon einbezogen, als den Zen-Schülern meist bewusst sein wird. Atembewusstheit, Körperbewusstheit, insbesondere die Grundhaltungen des Stehens, Gehens, Sitzens und Liegens werden ja im Zen explizit geschult. Andere Punkte des KörperÜbungsfeldes werden eher summarisch wahrgenommen, so die Unreinheit der anatomischen Bestandteile, der Flüssigkeiten im Inneren; kaum systematisch wird der verwesende Leichnam betrachtet. Individuell, in einer konkreten Situation, mögen diese Aspekte jedoch ebenfalls in der einen oder anderen Form kontemplierend betrachtet werden, so dass sich die Anhaftung an den Körper vermindern kann.
An dieser Stelle kann ich nicht auf alle Elemente der Satipatthana-Übung eingehen. Die fünf Hindernisse, die du erwähnst, sind im Zen ebenfalls ein Thema, wobei man allerdings an dieser Stelle ein Defizit der traditionellen Zen-Schulung ausmachen kann. Zen ist ja ausgesprochen handlungsorientiert, der Lehrstil vor allem praktisch ausgerichtet, und so wird ein Lehrer den Übenden womöglich in dem Moment ansprechen, wenn sich eines dieser Hindernisse situationsbedingt konkret als Störfaktor zeigt. Das kann sehr wirksam sein. Allerdings schulen sich die Übenden kaum darin, die Achtsamkeit bereits dann auf ein Hindernis zu richten, wenn es bloß als Gedanke oder Gefühl auftaucht, also noch bevor es sich in einer Handlung manifestiert.
Dieser Ansatz, der im genannten Sutra entfaltet wird, scheint auch deswegen im Zen zu fehlen, weil im Grunde das Idealbild der reinen Übung beschworen wird, die ein Verwirklichen der Erleuchtungsfaktoren meint. Doch die Realität sieht natürlich anders aus. Eine Reihe von autobiographischen Berichten von Aufenthalten in japanischen Klöstern schildern Situationen, in denen selbst hochrangige Mönche oder Meister sich zuweilen ungehemmt dem Hindernis des Übelwollens überlassen.
Bekanntlich hat Meister Deshimaru (1982+) der klassischen Konzentrationsmethode des Zen daher eine zweite Methode ergänzend zur Seite gestellt, eben jenes achtsame Beobachten der Gedanken und Gefühle – ein kluger, konsequenter Schritt. In wieweit er in den europäischen Zen-Kreisen aufgenommen wird, ist allerdings ungewiss.
Die fünf Daseinsgruppen, die Bauelemente des Menschen, werden im Zen – wie zumeist im Mahayana – wiederum summarisch behandelt, spielen in der Lehre Dogen Zenjis jedoch eine gewichtige Rolle. Wird die Konzentration (Samadhi) in rechter Weise auf dieses Feld gerichtet, können weitgehende Erkenntnisse erlangt werden. Achtsamkeit, ein sich schärfendes Beobachten wird darin integriert sein, wenngleich Dogen dies nicht ausdrücklich sagt. Im besten, aber wohl seltenen Falle mag sich dann – wie im Sutra anvisiert – ein Gewahrwerden der Natur der Daseinsgruppen einstellen: ihres ständigen Entstehens und Vergehens, das sich mit der Auflösung der Ich-Illusion verbindet; des Erlöschens, das unübertreffliches Nirvana genannt wird. Und womöglich wird der/die Übende genau dann der Einheit von Mitgefühl und Weisheit im eigenen Herzen gewahr werden, die Dogen anspricht, wenn er sagt, die Hände und Augen des Bodhisattva des Mitgefühls seien Qualitäten des Vergehens. Oder erfahren Letzteres dann vor allem die Praktizierenden des Mahayana?
Diese Verwirklichung jenseits aller Begriffe erläutert Dogen im Kapitel Meeres-SiegelSamadhi (SBGZ, Bd. II). Konzentration (inklusive Achtsamkeit) und tiefgründiges Erkennen gehen dort eine Synthese ein. Ähnlich ist ja auch in der genannten Lehrrede des Buddha, dem Satipatthana-Sutta, die Übung der Achtsamkeit nicht auf ein bloßes Subtiler-Werden der Alltagserfahrung gerichtet, sondern dient der Verwirklichung des befreienden höchsten Wissens.
Dagmar Doko Waskönig leitet das Zen Dojo Shobogendo in Hannover. Sie ist Dharma Nachfolgerin von Gudo W. Nishijima Roshi.