Der Borobudur

Ein einzigartiges Monument des Bodhisattva-Weges

Dagmar Doko Waskönig

Zuerst erschienen in Ausgabe 2/98 der „Lotusblätter“ (heute: „Buddhismus Aktuell“)

Dieser mit gewaltigen Steinmassen überbaute Hügel in Zentral-Java stellt einen ganz einzigartig gestalteten heiligen Ort dar. Man kann ihn typologisch wohl am ehesten als Terrassen-Stupa ansehen. Doch hat man damit noch keines der vielen Rätsel gelöst, die der Bau im Detail und als Ganzes betrachtet aufwirft.

Eine Unmenge von wissenschaftlichen Untersuchungen befasst sich mit ihm, ohne dass bis heute eine Gesamtdeutung der komplexen Konzeption gefunden wäre, die einmütig angenommen würde¹. Es bleibt faszinierend möglichen Deutungsversuchen nachzugehen. Solches Nachforschen wird den tiefen Eindruck, den dieses Monument auf empfängliche Menschen machen wird, keineswegs schmälern. Die Bewunderung für die geniale Lösung, mit der hier eigentlich Nicht-Darstellbares verkörpert wird, vermag das Emporsteigen in diese Welt der vielen Bodhisattvas und der hunderten von Buddhas noch vertiefend zu konzentrieren.

Leider wissen wir so gut wie nichts über die ursprüngliche Nutzung des Bauwerks, das wohl während der Regentschaft der Shailendra-Dynastie, vermutlich um 760 bis um 830, errichtet wurde. Es ist jedoch anzunehmen, dass diesem aufwendig gestalteten Ort eine herausragende Bedeutung im religiösen Kultus des Landes zukam.

Um den Sinn der Anlage zu entschlüsseln, sind wir allein auf die sich darbietende architektonische Gestalt und die umfänglichen bildhauerischen Zyklen verwiesen, nicht zuletzt aber auf unsere Intuition, um all diese Elemente womöglich zu einem in sich schlüssig erscheinenden Gesamtprogramm zusammenzusehen.

Der Pilgerweg – Pradakṣiṇā

Ansicht einer von insgesamt vier Galeriegängen. Alle haben beitseitig verlaufende Reliefbänder gemein.

Der Bau bietet sich zunächst dar als terrassenförmig ansteigendes Monument auf quadratischem, zu den Seiten hin zweifach zurückgestuften Grundriss mit einer Seitenlänge von 113 Metern. Aus der verwirrenden Formenfülle der stark profilierten, verzierten Mauern treten die Reihen der Nischen, in denen Buddha-Statuen sitzen, deutlicher hervor. Sie werden von Stupa-Gruppen bekrönt.

Auf der Achse jeder Seite führt eine Treppe steil zum Gipfel hinauf: Auf dem Weg zum Ziel gibt es den direkten Anstieg, aber auch den langen, beschwerlichen Pfad über alle Terrassen und Galerien. Beim Gehen durch die beidseitig abgeschrankten Räume der Galerien können sich Pilgernde allmählich immer stärker sammeln. Nicht nur das mehrfache rituelle Umschreiten eines noch verborgenen Zentrums mag seine Wirkung tun. Auch die endlos erscheinenden Bildwelten auf den Reliefbändern, die den Weg an beiden Seiten säumen, mögen Besinnung, Läuterung und vielleicht Begeisterung für den Weg der ernsthaft Strebenden inspirieren.

Seit langem ist bekannt, dass die szenischen Darstellungen eine Reihe von buddhistischen Schriften illustrieren. Doch ist an dieser Stelle gleich eines der Rätsel des Borobudur anzusprechen. Der zuunterst angebrachte Zyklus, der sich außen auf dem ursprünglich geschweift vorspringenden Sockel befindet, wurde nachträglich – noch während der Bauzeit oder bald danach – durch zwei glatt gehaltene Stufen verdeckt. An einer Ecke ist der alte Fuß heute wieder sichtbar. Die Darstellungen beziehen sich auf den Text Mahākarmavibhaṅga, eine Klassifikation der Handlungen gemäß dem Karma-Gesetz.

Doch warum verschwand das Ergebnis immenser Arbeitsleistung alsbald hinter einem neuen Sockel? Am ehesten möchte man vermuten, der Sockel sei um die Befürchtung um die Statik verstärkt worden. Oder passten die Karma-Geschichten nicht mehr in ein geändertes Programm? Wollte man eine andere Anzahl von Stufen deutlich werden lassen? Diese Fragen sind bis heute nicht sicher zu beantworten.

Die Galerie-Reliefs zeigen Situationen aus dem Leben des Buddha Śākyamuni, Legenden seiner früheren Leben sowie Geschichten aus dem Gaṇḍavyūha-Sūtra.

Die Reliefs in den Galerien sind sämtlich auf das Thema des Bodhisattva-Weges zu beziehen. In der ersten Galerie beginnt auf der Innenwand oben der Zyklus des Lebens des Buddha Śākyamuni bis zu dessen erster Predigt. Grundlage ist hier die Biografie aus der Schrift Lalitavistara. Weiter folgen Jātakas und Avadānas, also Legenden aus den früheren Leben Śākyamuni als Bodhisattva, und Heldentaten anderer Heiliger.

Auf der Innenwand der zweiten Galerie beginnt dann die Geschichte des jungen Sudhana, der auf seinem Weg zur Buddhaschaft 53 Lehrer und Lehrerinnen aufsucht. Diese populäre Erzählung findet sich im umfangreichen Buch Gaṇḍavyūha, das in der chinesischen Übertragung Teil des Avataṃsaka-Sūtra ist. Auch die Bilder der dritten und vierten Galerie sind dieser Geschichte gewidmet.

Einige Autoren Rätseln darüber, warum gerade dieser Erzählung der weitaus größte Raum zufällt, zumal sie kaum eine Vorlage für szenische Vielfalt bietet. Immer erneut sehen wir den Bodhisattva vor einer Lehrgestalt stehen oder sitzen. Immer wieder fragt er danach, wie der Weg des Bodhisattva zu gehen, wie das Verhalten des Bodhisattva zu lernen sei. Indessen mag sich auf der langen Wegstrecke dies als Leitmotiv einprägen: Die Betonung des Lehrens und Hörens auf dem Weg. Wir werden noch sehen, dass es gar nicht verwunderlich ist, dass Sudhanas Fortschreiten bis zum Ende des Weges über Galerien veranschaulicht wird.

Auf der Plattform weiter oben befinden sich 72 kleinere Stupas. Ihr glockenförmiger Körper ist netzartig durchbrochen. Jeder beinhaltet eine Buddha-Statue.

Wenn der Pilger dann aber aus den engen Galerien durch ein Tor zur oberen Plattform hinaufsteigt, tut sich ihm wie befreiend eine offene Weite auf, eine wahrhaft erhabene Ebene des Ganz-Anderen. Um einen gewaltigen Mittelstupa von fast elf Metern Durchmesser gruppieren sich auf drei gerundeten Stufenabsätzen kleinere Stupas, 72 an der Zahl. Anders als beim Zentral-Stupa ist ihr glockenförmiger Körper eigentümlich netzartig durchbrochen. Nicht sogleich wahrnehmbar umschließt jeder dieser Stupas eine Buddha-Statue, deren Hände die Dharmacakra-Mudrā zeigen, die Geste des In-Gang-Setzens des Rades der Lehre.

Statt der Fülle dicht gedrängter Gestalten auf den Reliefs weiter unten, statt gradliniger, eckig umspringender Wegführung nun auf der hohen Ebene eine einzige Grundform, vielfach wiederholt, gerundete Formen der Terrassen und Glockenkörper, beinahe abstrakt in ihrer Erscheinung, die menschliche Gestalt fast verborgen haltend.

Können wir mehr dazu sagen, etwas, wodurch solche Beobachtungen ergänzend zu präzisieren wären?

Die zehn Stufen des Bodhisattva-Weges: Daśabhūmika

Der Borobudur von oben. Gut sichtbar hier die Galerien an den Seiten, die Plattform weiter oben sowie der große Zentral-Stupa.

Wenden wir uns zunächst der Stufung des gesamten Baukörpers zu. Verschiedentlich ist dies in der Literatur bereits mit unterschiedlichen Stufenmodellen des Bodhisattva-Weges in Verbindung gebracht worden. Dies liegt insofern nahe, als sämtliche Reliefzyklen der Bodhisattva-Thematik vorbehalten sind. Selbst wenn die Karma-Geschichten des alten Fußes nur in einer Notlösung verdeckt worden wären, sprächen sie nicht gegen eine solche Deutung; denn der Bodhisattva blickt von den Stufen immer wieder mitfühlend auf die Verstrickungen der Lebewesen und reflektiert das Karma-Gesetz.

In der hier gebotenen Kürze beziehen wir uns ausschließlich auf den Weg in zehn Stufen oder Böden (Bhūmi), wie ihn das Daśabhūmika-Sūtra entfaltet. Diese Deutung wollen wir mit einigen zusätzlichen Erwägungen festigen. Nicht nur handelt es sich bei dieser mutmaßlichen Textgrundlage um die sozusagen klassische Darlegung dieses Weges. Es wäre zudem der Vorteil geltend zu machen, dass sie sich zusammen mit Gaṇḍavyūha in der chinesischen Übersetzung im Avataṃsaka-Sūtra befindet. Es kämen hier die beiden Übertragungen von Buddhabhadra (418-421) und Śikṣānanda (695-699) in Frage. Erstere wurde von Torakazu Doi ins Deutsche und letztere von Thomas Cleary ins Englische übersetzt².

Lancaster wies darauf hin, dass es nicht abwegig erscheine, den Bezug zu einer chinesischen Quelle anzunehmen, da sich im 8. und 9. Jahrhundert etliche Pilger und Tantra-Meister aus China zeitweilig in Java aufhielten³.

Wenn wir zehn Bhūmi als beabsichtigtes strukturelles Element des Borobudur voraussetzen, bleibt die Einteilung der Stufen gleichwohl diskutierbar. Entsprechend unterschiedliche Zählweisen finden sich in der Literatur. Zwei Möglichkeiten möchte ich für plausibel halten: Rechnen wir den angesetzten Fuß mit zwei Stufen ein, kommen wir bis zur Galerie zu Stufe sechs, die drei mit Stupas besetzten Terrassen bilden die Stufen sieben bis neun und der Zentralstupa die zehnte Stufe.

Wenn wir hingegen – und dafür spricht einiges mehr – am Fuß nur die breitere, abgeschrankte Stufe zählen, aber in der äußeren Abtreppung nur die ein wenig harmonisierende Abstützung zum Grund hin sehen wollen, dann befände sich die sechste Stufe bereits auf der Ebene der oberen Plattform, allerdings noch unterhalb der Stupa-Terrassen. Dies macht Sinn; denn es ist die sechste Stufe, auf der der Bodhisattva beginnt, die Erfahrung des Nirvāṇa zu machen. Er hat sich abgewandt von den Stufen des Śrāvaka und Pratyekabuddha.

Aber vielleicht ist das, was uns heute unklar erscheint, für die Erbauer wenig relevant gewesen oder mit einer hypothetischen Planänderung in Verbindung zu bringen. In jedem Falle wäre es unangemessen, unsere moderne Auffassung von einer durchgehend systematischen Stimmigkeit auf ein solch komplexes Bauvorhaben des 8./9. Jahrhunderts zu übertragen.

Prüfen wir nun, inwiefern es stimmig wäre, von der 7. Stufe an, dem „Boden des Weiter-und-Weiter-Gehens“, das Stupa-Monument einzusetzen, das ja zuallererst ein Symbol des Nirvāṇa ist. Die Stufe ist neben unendlich vielem anderen dadurch gekennzeichnet, dass der Bodhisattva in jedem Moment alle Gesetze, die zur Erleuchtung hilfreich sind, verwirklicht. Hier erfüllt er in besonderem Maße alle zehn Vollkommenheiten (Pāramitā), während sonst auf jeder Stufe schwerpunkmäßig eine Vollkommenheit geübt wird.

Dies alles geschieht, weil er nun herankommt zum Verhaltensweg im Wissen und in der übernatürlichen Fähigkeit. Sein Handeln wird zeichenlos, rein durch die Wahrheit des Nicht-Entstehens. Beginnend mit der 6. Stufe ging er in das Verlöschen (Nirodha) ein, nun tritt er in jedem Geistesmoment ein und aus, ohne Nirodha persönlich zu verwirklichen. Er verweilt im wahren Ziel (Bhūtakoṭi) und realisiert dennoch nicht das persönliche Verlöschen.

Auf der 8. Stufe, dem „Boden der Unerschütterlichkeit“, ist er über alle Dualitäten hinausgegangen. Er erreicht die höchste Essenz der Nicht-Anstrengung. Er hat verstanden, dass alle Dinge von Natur aus wie freier Raum sind, er hat die Aufnahmefähigkeit dafür erlangt, dass die Dinge kein Entstehen haben. Die Buddhas geben die Sammlung des Wissens des Tathāgata, doch fehlen dem Bodhisattva noch die besonderen Eigenschaften eines Buddha, darunter das All-Wissen.

Auf der 9. Stufe, dem „Boden der guten Weisheit“ wird er der große Prediger und bewacht die Schatzkammer der Lehren des Tathāgata. Es heißt von ihm, er erkläre mit dem Klang der Stimme des Tathāgata. Er empfängt zahllose Tore zu magischen Formeln.

Der Ausgezeichnetheit dieser Stufe entspricht es, wenn die Stupas des Borobudur hier gegenüber denen auf den Stufen darunter ein wenig differenziert gestaltet wurden. Die Öffnungen sind nicht mehr rhombenförmig, sondern annähernd quadratisch konstruiert, die aufsitzende Harmika ist nicht mehr quadratisch, sondern oktogonal geformt.

Und die Rundung der Terrassenstufe, auf denen sich die Stupas befinden, ist erst hier völlig kreisrund gebildet.

Auf dem zehnten „Boden der Wahrheitswolken“ nimmt der Bodhisattva auf dem Lotusthron Platz und wird zum Buddha geweiht. Er erlangt das All-Wissen und alle anderen Fähigkeiten des Vollkommenen Erleuchteten. Alle Welten beben, von seinem Körper gehen zahllose Strahlungen aus…

Der Eintritt in das Reich der Wahrheit – Dharmadhātu

Stupa-Terrassen mit Zentral-Stupa in der Mitte. Statt der Fülle dicht gedrängter Gestalten auf den Reliefs weiter unten, nun auf der hohen Ebene eine einzige Grundform, vielfach wiederholt.

Die Stupa-Form erscheint nach allem durchaus ein angemessenes Symbol in dieser Sphäre. Es bliebe nun zu untersuchen, warum sich das Ganze in dieser speziellen Gruppierung manifestiert. Einige wenige Autoren, ausführlich vor allem Gomez4, haben dieses gewaltige Panorama bereits – wenn auch mit allzu vielen Vorbehalten – mit der Schlussphase der Sudhana-Geschichte aus dem Gaṇḍavyūha in Verbindung gebracht. Hier liegt m. E. in der Tat der Schlüssel zum Gesamtkonzept des Borobudur, das wir als Zusammenblendung des Daśabhūmika mit der exemplarischen Erfahrung sehen möchten.

Gegen Ende seines Weges gelangt Sudhana in seinem Samādhi-Zustand zu einem großen Turmgebäude, dem Raum des Schmuckes des Vairocana Buddha. Er weiß, dass hier der Ort derjeniger ist, die im Zustand der Leerheit, Zeichenlosigkeit und Neigungslosigkeit verweilen, die alle Anhaftungen an die Welt abgeworfen haben, die in Einheit mit dem Zustand aller Buddhas leben usw. Es sind jene, die die vollkommene Erkenntnis über die fünf Skandhas haben und doch nicht in deren letztlichem Verlöschen verweilen. Es sind diejenigen, die in der Soheit verweilen.

Als er den Turm betritt, der ihm von Maitreya geöffnet wurde, erfährt er das Innere in unermesslicher Weite wie den Himmel, im Schmuck zahlloser Attribute. Er sieht dort tausende anderer Türme, grenzenlos weiträumig auch sie, angeordnet in allen Himmelsrichtungen. Sie sind nicht miteinander vermischt, bleiben unterscheidbar, während sie in jedem Objekt aller anderen Türme reflektiert werden. In der Mitte aber sieht er einen Turm, der größer als alle anderen ist.

Sudhana nimmt all dies in unbehindertem Gegenwärtigsein wahr, sein Intellekt, heißt es, folgt dem unbehinderten Auge der Befreiung. Es ist diese Verwirklichung der magischen Projektion einer höchst dynamischen Vervielfältigung, die den ganzen weiten Raum in wechselseitiger Spiegelung durchdringt, die der Künstler des Borobudur auf geradezu geniale Weise als gewaltiges, räumlich entfaltetes Panorama mit vielen Stupas veranschaulicht hat. Dabei liegt es durchaus im naheliegenden Bereich künstlerischer Gestaltungsfreiheit, in diesem Zusammenhang die „Türme“ in Form von Stupas wiederzugeben.

Es ist ihr Durchbrochen-Sein, das sinnfällig die transparente Ortlosigkeit der geistigen Emanationen, ihr Sich-ineinander-Spiegeln suggerieren kann. Abwegig erscheint dagegen die in der Literatur geäußerte Vermutung, das Phänomen des Spiegelns wäre erst im Glanz einer (hypothetischen) Vergoldung der Stupas wahrzunehmen gewesen. Dies ist eine Möglichkeit, das zu erfahren, was Dharmadhātu genannt wird, nämlich die Totalität der Realität, wie sie von Erleuchteten geschaut wird. Im 8. Jahrhundert, als der Plan für den Borobudur entworfen wurde, gab es ein starkes Interesse an Erleuchtungserfahrungen. Die chinesische Hua-yen-Schule, die auf dem Avataṃsaka-Sūtra basiert, befasste sich systematisch damit. Der dritte Hua-yen-Dharma-Ahne Fazang hatte sie der Kaiserin Wu mit Hilfe einer Demonstration im Spiegelsaal erläutert5.

Es sei noch angemerkt, dass der Bodhisattva im Daśabhūmika-Sūtra auf der 8. Stufe die Kraft des Verhaltens durch Vervielfältigung manifestiert. Er erwacht zum Dharmakāya. Mit zahllosen Körpern, Stimmen, usw. wirkt er nun für die Wesen. Dies wird besonders ausführlich in der Übersetzung von Doi gezeigt.

Die Vervielfältigung der Stupas schließt – neben anderen Gründen – auch eine öfter geäußerte Deutung mit Hilfe einer Passage aus dem Lotus-Sutra aus, wo ein Vorzeit-Buddha in einem einzigen Stupa auftaucht.

Sudhana nimmt sich im Folgenden in allen Türmen wahr, der Lebens- und Erleuchtungsweg des Maitreya rollt wie ein Film vor seinen Augen ab. Diese Szenen werden – wie auch das Betreten des Turms – auf den Reliefs weiter unten dargestellt. Er sieht Maitreya das Leben Śākyamunis nachleben, sein Andrehen des Rades der Lehre, sein Predigen. Nur völlig unzureichend können wir das Geschehen in den Buddha-Feldern andeuten.

Später gelangt Sudhana zu den Bodhisattvas Mañjuśrī und Samantabhadra. Gegen Ende des Textes sieht er Samantabhadra auf einem Lotusthron vor Vairocana Buddha sitzen. Schließlich kommt er zur Identifikation des Sudhana mit dem Bodhisattva, er lehrt innerhalb von dessen Körper, er erreicht Gleichheit mit allen Buddhas. Dazu wird Śākyamuni erschaut, ausführlich erscheint eine Szenenfolge im Sinne eines Durchlebens in der Identifikation.

Der Künstler des Borobudur scheint diese ganze Schlusspartie des Textes, die Begegnung mit allen drei Bodhisattvas in einem prägnanten Bild der nirvāṇischen Stille fokussiert zu haben. Die dynamische Vielfalt der Emanationen darf nicht darüber täuschen, dass all dies in der Stille des tiefen Samādhi geschieht.

Abschließend haben wir die sehr strittige Frage nach dem Namen des Buddha innerhalb der Stupas zu prüfen. Ausgehend von der eben angeführten Manifestation von sechs verschiedenen Buddhas am Textende scheint mir folgende Deutung am wahrscheinlichsten zu sein.

Es liegt nahe, im Zentralstupa ursprünglich einen Vairocana zu vermuten. Die heute dort in einer Kammer befindliche Figur eines unvollendeten Buddha mit der Geste der Erdberührung gehört keinesfalls an diesen Ort. Vairocana steht nicht nur im Zentrum des Gaṇḍavyūha, traditionell ist er auch die Zentralgestalt im populären Maṇḍala mit den sogenannten Dhyani-Buddhas. Jene sind bekanntlich in den großen Nischen der vier Terrassen, und zwar den üblichen Himmelsrichtungen zugeordnet, zu sehen.

Bedenken wir das Generalthema des Bodhisattva-Weges, so steht am Ende das Andrehen des Rades der Lehre durch einen neuen Buddha. Dies manifestiert sich in der Dharmacakra-Mudrā der Buddhas in den kleineren Stupas. In gewissem Sinne wäre es logisch, den zum Buddha gewordenen Sudhana an dieser Stelle verkörpert zu sehen. Indessen ist es zwar denkbar, in der flüchtigen Projektion des Samādhi dieses Bild zu emanieren. Etwas anderes ist die bleibende Verkörperung in Stein. So kann es sich m. E. hier nicht um Sudhana handeln, auch nicht um Maitreya oder Samantabhadra als Buddha oder gar um weit hergeholte andere Gestalten, die schon vorgeschlagen wurden.

Naheliegend wäre es, hier Vairocana zu vermuten, der traditionell im Zentrum jenes Maṇḍala zu finden ist. Auch die Mudrā könnte dafür sprechen. So wurde es unter anderem von Seckel vorgeschlagen6. Doch scheint es denkbar, dass hier eine derartige Zentralgestalt vervielfacht konzipiert worden sein könnte? Mit dem gebotenen Vorbehalt möchte ich stattdessen hier den Buddha unseres Weltalters sehen, wie es schon von Foucher zu Beginn des 20. Jahrhunderts ohne Begründung tat. In dieser räumlichen in die Höhe gezogenen Maṇḍala-Konzeption wäre er sozusagen zwischen die vier Buddhas und den übergeordneten zentralen Vairocana eingefügt worden. Das erwähnte identifizierte Durchleben von Śākyamunis Leben seitens des werdenden Buddha Sudhana am Ende des Textes könnte solche Deutung unterstützen.

Buddha-Gruppe mit der Vitarka-Mudrā (siehe mittlerer Buddha, beim ersten fehlt diese) auf der obersten Balustrade der Galerien.

Śākyamuni möchte ich auch in der noch verbleibenden Buddha-Gruppe mit der Vitarka-Mudrā, der Geste des Lehrens sehen, die auf allen vier Seiten der obersten Balustrade der Galerien, am Übergang zu den offenen Terrassen nach außen gewendet, das tätige Lehren – ein Hauptthema des Ganzen – in alle Himmelsrichtungen der Welt hinein versinnbildlicht.

Das Maṇḍala-Thema ist dieser Konzeption ohne Schwierigkeiten einblendbar gewesen. Der Künstler nahm das populäre Maṇḍala mit den sogenannten Dhyani-Buddhas auf, das so im Gaṇḍavyūha freilich nicht vorkommt. Aber die Vision der aus allen Richtungen – hier sind es zehn – zur Versammlung ankommenden Buddhas wird schon zu Anfang des Textes eindrücklich vermittelt. Und hier wird im Samādhi ein Bauwerk erfahren, das unendlich viele kostbar geschmückte Türme, Bögen, Balustraden sowie Treppenanlagen in jeder Richtung zeigt. Dies ist ein Bild, das nahezulegen scheint, den Gesamtaufbau des Borobudur eben als diesen gereinigten Predigt-Ort aufzufassen.

Hingegen scheint die des Öfteren vorgetragene Deutung, hier die drei Sphären (dhātus) der Begierdewelt anzunehmen, nicht dazu zu passen und wurde eingehend vor allem von Lopez abgewiesen. Die Erfahrung von Dharmadhātu nämlich liegt jenseits der Begierdewelt.

Anmerkungen:

  1. Hervorgehoben sei hier ein Aufsatzband, auf den wir uns mehrfach beziehen: Barabodur. History and Significance of a Buddhist Monument. Luis O. Gomez und Hiram W. Woodward, Jr. (Hrsg.), Berkeley 1981
  2. Das Kegon Sutra, Bd. II, übers. von T. Doi, Tokyo 1981; The Flower Ornament Scripture: A Translation of the Avataṃsaka Sutra, übers. von Th. Cleary, Band II, Boston und London 1986; vgl. ferner die Übertragung aus dem Sanskrit von Megumu Honda, Annotated Translation of the Dasabhumika-Sutra, in: Studies in South, East and Central Asia, ed. by Denis Sinor, New Dheli 1968
  3. Siehe Anmerkung 1
  4. Siehe Anmerkung 1
  5. Vgl. Garma C. C. Chang, Die buddhistische Lehre von der Ganzheit des Seins, Bern, München, Wien, 1989
  6. D. Deckel, Kunst des Buddhismus, Baden-Baden 1962, S. 125f.