Zazen ist Ruhe, ist Tröstung und ist Rettung

(aus Buddhismus aktuell 2/2008)

„Zazen ist Ruhe, ist Tröstung und ist Rettung“ (Gudo W. Nishijima)

Dagmar Doko Waskönig

Ohne Frage ist das Verdienst eines wirklichen Menschen, der in Zazen sitzt, unermesslich. Daher ist das Sitzen im täglichen Leben grenzenloses Glück und grenzenlose Tugend  (Dogen, Shobogenzo: Zanmai-o-zanmai).

Sich die besondere Stille zu gönnen, die den Übungsraum für Zazen (das schweigende, konzentrierte Sitzen der Zen-Tradition) erfüllt, ist eine wahre Wohltat. Und Ruhe im eigenen Körper und Geist zu erfahren und zu vertiefen, kann zu einem rechten Segen werden. Nichts anderes tun zu müssen, als sich nur ganz aufrichtig dem Sitzen anzuvertrauen, sich jetzt nur auf etwas ebenso Einfaches wie Wesentliches auszurichten, das macht für eine Weile frei. Befreit vom Druck des Alltags, den belastenden Ungewissheiten des Lebens, Ängsten und einem Ungenügen an den Begrenztheiten des Daseins. Immer dann, wenn Trost gebraucht wird, kann er hier auftauchen.

Insbesondere wenn man die Bewegung des Ausatmens lang werden lässt und sie sanft bis in den Bauchraum hinabdrückt, dann wird der Kopf frei, und eine strahlend klare, raumhafte Weite erfüllt das Bewusstsein – mit der Möglichkeit, die Perspektive des eigenen Lebens zu klären. Wir wissen heute, dass sich im Bauch eine erstaunliche Konzentration von Nervenzellen befindet, die auf noch unklare Weise mit den Gehirnaktivitäten in Verbindung stehen. Für Zazen-Übende dürfte diese Beziehung jedenfalls recht plausibel sein. Und wenn der oder die Übende dann gar Zazen als Buddha-Dharma erlernen möchte, dann kann sich der Weg der Rettung auftun.

Sitzen

Setzt sich ein Mann oder eine Frau in Zazen, so sind sofort vorzügliche Bedingungen gegeben, um bei rechter Wegweisung und Herzensberührung mit einem Lehrer oder einer Lehrerin in eine weit reichende Praxis einzutauchen. Im Idealfalle nimmt der oder die Übende die volle Lotusposition ein mit symmetrisch verschränkten Beinen und zusammengefügten Händen. Zu Recht preist Meister Dogen (1200-1253), auf den die japanische Soto-Tradition zurückgeht, diese ideale Haltung der Sammlung aufs Höchste. Freilich werden sich die meisten Übenden mit einfacheren Formen begnügen.

In jedem Falle wird der Mensch unmittelbar mit seinem Körper, mit der eingenommenen Haltung konfrontiert. Unbeweglich im Lot zu sitzen, bedeutet eben auch, nicht abzugleiten in eingespielte Ausweichbewegungen, um bewusst oder unbewusst Unbehagen oder Schmerz zu umgehen. Weicht man dann rasch der Schwierigkeit aus – hier und anderswo? Oder wird die Motivation weiterzumachen gestützt durch all das andere, was im günstigen Falle ebenfalls spürbar wird, nämlich ein Wohlgefühl, Ruhe und geistige Weite? Entsteht dadurch ein erstes, auf eigene Erfahrung gegründetes Vertrauen in den uralten und erprobten Übungsweg? Und wird dies untermauert durch einen noch unbestimmten oder bereits klar bewussten inneren Drang, die große Frage von Leben und Tod klären zu wollen?

Dann wird der Wunsch entstehen, an der Haltung zu arbeiten, so dass sie immer mehr dem Sitzen eines Buddha gleicht. Einige Merkmale sind dabei auszuformen, die im Detail gelehrt werden, insbesondere ein gutes Aufrechtsitzen. Schließlich wird sich die Haltung jedoch von innen, aus dem Schwerpunkt im Bauchraum her, aus einem ganzheitlichen Körpergefühl natürlich aufbauen und den Übenden ganz und gar, bis in jede seiner Zellen hinein, durchdringen. Und nicht nur das. Sie wird den Menschen insgesamt prägen, sichtbar auch dann, wenn er oder sie nicht sitzt. Wunderbar wird diese Haltung, wenn darin gleichermaßen eine innere Verfassung Ausdruck findet, etwa in einer Verbindung von Aufrichtigkeit und Klarheit, Offenheit, Demut und Güte.

Diese Prägekraft mag auch damit zusammenhängen, dass die Systeme des Körpers sich während des Zazen harmonisieren können. Einmal die Muskulatur, die, wie sich sofort zeigt, oft nicht in bester Verfassung ist und sich in manchen Bereichen vielleicht als zu schwach oder aber als arg verspannt erweist. Wird hier ein ausgeglichener Tonus erlangt, dürfte dies auch zur Entspannung von manch psychischem Hemmnis beitragen. Der körperliche Aspekt des Sitzens und seine Verbindung mit dem Geist spielen im Zen eine wichtigere Rolle als heute weithin in anderen buddhistischen Schulen. Und dies hat sein Gutes.

Einige japanische Meister betonen zudem, auch das vegetative Nervensystem mit den  gegensätzlich wirkenden Impulsen von Sympathikus und Parasympathikus harmonisiere sich in Zazen.  Mein Lehrer Nishijima Roshi entwickelte unter dem Einfluss westlicher Psychosomatik die starke Vermutung, dass eine Unausgewogenheit dort eine physische Basis für spannungsreiche Gedanken und Gefühle wie Liebe und Hass sein könne. In der Konzentration von Zazen ergebe sich – gestützt von der Balance des Nervensystems – sozusagen ein Nullzustand des Bewusstseins mit der Möglichkeit offener geistiger Weite. Dann sind die geistigen Gifte zeitweilig ausgefallen. Bislang noch nicht beweisbar entspricht diese These jedoch gewiss mancherlei Erfahrungen, die Übende bereits gemacht haben.

Das Sitzen erforschen

Es scheint ratsam, eine Sitzperiode zunächst einmal methodisch klar zu beginnen. Konzentrierend wird vorab bereits das gesammelte Eintreten in den Übungsraum wirken, das den jeweiligen Regeln entsprechende Verbeugen vor der Buddha-Statue, das Gehen zum Platz und ein geordnetes Sich-Hinsetzen. Sodann wäre es zum Beispiel sinnvoll, sich in den Körper zu versenken, sich ganz hineinzulassen in das Aufspüren der Balance zwischen der Senkrechten und der Waagerechten, wodurch die Haltung feiner abgestimmt ins Lot kommt. Daraufhin sollte man den Körper in seiner Gänze mitsamt seiner Zentrierung in der senkrechten Achse ins Bewusstsein aufnehmen. Anschließend wird man sich in den Rhythmus der Atembewegung hinein geben, sie ruhiger und harmonischer werden und möglichst bis in den Bereich unterhalb des Nabels hinabsinken lassen.

Um die Bewusstheit weiter zu schärfen und auch die innere Ruhe noch zu verstärken, so rate ich an, sollte der oder die Übende überprüfen, ob der Atem ein Geräusch erzeugt und dieses gegebenenfalls abstellen. Und dann sei die Achtsamkeit ins Innere der Nase gerichtet, um zu klären, ob es dort etwa noch ein ganz feines, normalerweise unbemerktes Geräusch gibt. Gelingt es, auch dieses aufzugeben, wird man sehr ruhig und klarbewusst sein.

Meister Dogen  verstand Zazen durchaus als eine dynamische Tätigkeit. Es mag manche Leser überraschen zu erfahren, dass er  vorschlägt, zahllose Details, die Zazen betreffen, im Sitzen zu studieren. Mit einer Reihe von Fragen spricht er einen möglichen Phasenverlauf des sich intensivierenden Sitzens an:

Wenn wir wirklich sitzen, was ist dann Zazen? Ist es eine lebhafte Tätigkeit? Gleicht es dem kraftvollen Handeln eines Fisches? Ist es Denken oder Nicht-Denken? Ist es Tun oder Nicht-Tun? Sitzen wir im Sitzen oder in unserem Körper und Geist? Oder sitzen wir, indem wir das Sitzen im sitzenden Körper und Geist abwerfen? Oder ist Sitzen noch irgendetwas anderes? (Dogen, Shobogenzo: Zanmai-o-zanmai)

Abfallen von Körper und Geist

Sitzen wir mit Vertrauen in den Weg in Zazen, tun jetzt nichts anderes als dies, vollkommen konzentriert auf die Haltung und Atembewegung, dann ist die Egozentriertheit abgeworfen. Es manifestiert sich kein Ich-Bewusstsein, sondern  bloß eine Handlung, ein wirkliches Nur-Sitzen. An die Stelle der verwirrten und täuschenden Gedanken und Gefühle tritt ein einfacher, klarer und harmonischer Zustand von Körper und Bewusstsein. In solch einer stabilen Konzentration sind die Anhaftungen an die Sinneswahrnehmungen ebenso wie die getäuschten Ansichten über das Ich, über das Glück und anderes mehr transzendiert – Körper und Geist sind abgefallen (Shinjin datsuraku). Abfallen, ausfallen oder abwerfen, wie immer man datsuraku übersetzen wird, meint hier offenbar einen Akt von befreiender Auswirkung.

Dogen Zenji charakterisiert Zazen immer wieder mit diesem Ausdruck. Das ist nicht verwunderlich, denn eben dieser wurde zum auslösenden Faktor für sein eigenes großes Erwachen, als er in China bei Meister Tendo Nyojo studierte. In dem Moment, als ein anderer Mönch in Zazen eingeschlafen war, hatte der Meister in einem Wortspiel gescholten: Wenn du bei einem Meister Zazen [aufrichtiges, intensives Sitzen] studierst, musst du Körper und Geist abwerfen; welchen Nutzen hat aufrichtiges, intensives Schlafen?

 Ein Abwerfen von Körper und Geist geschieht irgendwann von selbst, oft unmerklich.  Es ist eine Verwirklichung, die verschieden weit reichend sein kann. Natürlich ist ein großes Erwachen, ist Erleuchtung ein seltenes Geschenk. Im Kapitel Bendowa sagt Meister Dogen, der Übende, der vollkommen in Samadhi sitzt, präge das Buddha-Siegel in die drei Arten der Handlungen (Tun, Worte und Gedanken) ein. Hier ist auch die Anhaftung an der Illusion eines  abgetrennten Selbst abgefallen, und die Verwirklichung der essenziellen Ungetrenntheit von allen Wesen und Dingen wirkt prägend mit ein.  Auch ein kleines Erwachen, das weit häufiger möglich ist, wird nicht ohne Wirkung auf das Tun der Übenden sein.

Sich selbst studieren

Und weiter: Gibt es in Zazen Denken oder Nicht-Denken? Nun – Zazen ist kein gleich bleibender Zustand. Diesbezügliche Illusionen wären unangebracht; es ist ganz natürlich, dass auch Gedanken auftauchen. Sobald wir sie bemerken, lassen wir sie ziehen. Freilich gibt es auch den kristallklaren Zustand, in dem das Denken ausgefallen ist. Und es gibt noch etwas anderes. Aus dem still gewordenen Geist heraus können tiefgründige Gedanken wie von selbst auftauchen. Bedeutsam sind sie insbesondere, wenn sie – etwa in der Resonanz auf das Tun des Sitzens oder den Atemrhythmus –  die drei Daseinsmerkmale Unbeständigkeit, Leidhaftigkeit und Nicht-Selbst erhellen. Oder wenn es um das intuitive Erkennen der Dinge, so wie sind sind, ihre Soheit, geht. In der Dogen-Tradition gehört auch Hishiryo zu Zazen: eine erhellende geistige Funktion aus dem Nicht-Denken heraus, etwas anderes als Denken; spontanes, nicht ermüdendes Wirken des Geistes mit dem Glanz leuchtender Klarheit. Für Dogen Zenji ist Hishiryo auch das Rechte Sich-Entschließen, das 2. Glied des Achtpfades, das dem Zazen die Intensität gibt.

Natürlich gibt es in Zazen – in Phasen geringer Konzentration oder infolge eines inneren Druckes – auch die ganze Palette der bekannten beschmutzten Gedanken und Gefühle: Gier, Aversion, Neid, Machtstreben usw. – Reaktionen auf die Erfahrungen mit anderen Menschen, die wir in langen Jahren gespeichert haben. Auch können sich zusammen mit Gefühlen wie Wut oder Aggressivität die individuellen Lebensprobleme,  sogar alte Traumata, ins aktuelle  Bewusstsein drängen. In manchen Zen-Kreisen wird gelehrt, all dem keine Bedeutung beizumessen. Auch im Hinblick auf Konflikte in der Gemeinschaft rät der Meister, sich nur auf Zazen zu konzentrieren. Verständlich wird dies auf der Basis der Mahayana-Lehre von der Ungetrenntheit von Täuschung und Erleuchtung, Samsara und Nirvana, worauf ich hier nicht näher eingehen kann.

Aber es stimmt durchaus, dass während einer langen, intensiven Zazen-Praxis, ohne dass man dies bemerkt, sozusagen auf einer passiven Ebene, befreiende psychische Verarbeitungsprozesse stattfinden können. Doch – reicht all dies aus? Dazu müssen wir gar nicht in die Vergangenheit Japans oder nach Amerika schauen. Wenn wir nur nüchtern und realistisch bedenken, was wir selbst bereits mit Menschen erlebt haben, die jahrzehntelang Zazen üben, wird unter Umständen der Wunsch entstehen, die Methode zu erweitern. Auch  Meister Deshimaru war sehr weise zu diesem Schluss gekommen, worüber er sich eingehend in seinem Buch Die Praxis der Konzentration äußert. Er verstand es, die im Zen oft verpönte, traditionelle buddhistische Methode des Beobachtens der Gedanken in überzeugender Weise zu integrieren. Solch direktes Beobachten aus dem Sitzen heraus sei notwendig für das Entstehen echter Weisheit, die sich nach und nach durch das Hishiryo-Bewusstsein offenbare.

Üben und Erwachen

 Nicht vergessen werden sollte die Grundlage für das Erlernen des Weges. Meister Dogen sagt dazu: Übende des Weges müssen zuallererst den Glauben an den Weg haben. Die Übenden sollten glauben, dass sie sich von Anfang an innerhalb des Weges befänden. Und weiter, dass du frei von täuschenden Gedanken, verkehrten Sichtweisen über die Dinge, Überfluss oder Mangel und ohne Fehl bist (Gakudo yojinshu). Diese Sicht gründet sich auf die Mahayana-Lehre vom ursprünglichen Erleuchtetsein (jap. hongaku), deren Klärung für Meister Dogens Praxis-Verständnis zentral wurde.

Du sollst wissen, dass dir im Grunde nichts an der höchsten Erleuchtung fehlt. Obwohl wir ständig damit ausgestattet sind, verbleiben wir in einem verstandesmäßigen Verständnis des Weges, unfähig zu völligem Einklang damit (Bendowa). Solch ein Zusammenstimmen ist uns freilich nicht einfach möglich, und dieses ursprüngliche Erleuchtetsein ist nicht einfach da und abrufbar. Verwirklicht wird es erst im intensiven Üben. Meister Dogen war bemüht, die spezifische Bezogenheit von Üben und Verwirklichung mit verschiedenen Worten plausibel zu machen. Die Beziehung besteht bereits, weshalb im Soto-Zen betont wird, dass Zazen keine Methode ist, um Erleuchtung zu erlangen und die Bedeutung von Zazen in Zazen liegt.

Jemandes gegenwärtige Praxis ist Praxis in der Verwirklichung… Praxis zeigt direkt auf ursprüngliche Verwirklichung. (Bendowa). Sie geschieht auf deren Basis. Ausführlich hat sich der Dogen-Forscher Robert Klaus Heinemann (Der Weg des Übens im ostasiatischen Mahayana, 1979) der schwierigen Ausdeutung von Dogens Aussagen dazu gewidmet. Hier eine Passage aus dem Kapitel Bendowa aus dem Shobogenzo in seiner Übertragung:

Zu glauben, Üben und Realisieren seien nicht eins, wäre eine [irrige] Ansicht (ken) „äußerer“ (fremder) Lehren (gedo). In der buddhistischen Lehre sind Üben und Realisieren [von] gleichem Rang (itto). Da auch hierbei (ima mo) [das Prinzip] „Üben auf Realisieren“ (shojo no shu) [gilt], ist Üben (bendo) im Anfängerstadium [nichts anderes als] die Gesamtheit des ursprünglichen Erleuchtetseins (honsho).

Nicht vergessen werden darf natürlich das immer wieder beschworene Darüberhinausgehen. Aufrichtiges Sitzen geschieht unberührt von einem Unterschied zwischen Erleuchtung und Unerleuchtetsein.  Dann wirf Körper und Geist ab und wirf beides, Getäuschtheit und Erleuchtung, fort (Gakudo yojinshu). Die Darlegung über den Weg mit konzentriertem Bemühen, den ich jetzt lehre, lässt Myriaden Dinge verwirklicht da sein und praktiziert durch ein Hinausgehen über die Verwirklichung eine vollständige Wirklichkeit. Wenn du über diese Barriere gehst, alle Begrenzungen abwirfst, wirst du nicht berührt von derartigen segmentierenden Unterscheidungen (Bendowa).

Dann sind wir angelangt bei dem gewöhnlichen Geist, bei der einfachen Klarheit der alltäglichen Aktivitäten eines Zen-Menschen, worin ursprüngliche Reinheit erstrahlen kann. Auf der Basis des Bodhi-Geistes (jap. bodaishin, skrt. bodhicitta), der für Meister Dogen selbstverständlich zu Zazen gehört, können sie zum Segen für die Wesen und Dinge werden. Es ist die Rede von der Motivation eines Bodhisattva, der den Weg des Erwachens geht, um aus seinem großen Mitgefühl und durchdringenden Erkennen bestmöglich für die Rettung der leidenden Wesen wirken zu können.

Zen-Meisterin Dagmar Doko Waskönig ist Dharma-Nachfolgerin von Gudo W. Nishijima Roshi und leitet das Zen Dojo Shobogendo in Hannover. www.shobogendo.de