Schweigen ist Gold – vom Klang und Wohl der Stille

Expo-Impressionen

Dagmar Doko Waskönig

Verblüfft hat mich seinerzeit immer wieder die Reaktion der Menschen im Finnland-Pavillon auf der Expo 2000 in Hannover. Dort wurden die Besucher auf schmalem, sandigem Gang durch einen Dunkelraum an einer Wald-Wasser-Landschaft vorbeigeleitet, die als lebendes Bild in voller Breite an die Längswand projiziert war. Konfrontiert mit dieser nahegerückten, digital inszenierten Naturillusion, blieben die Menschen regelmäßig stehen, verweilten dort erstaunlich lange Zeit und – redeten kein Wort. Ganz still geworden, hatten sie ihr Sensorium anscheinend ganz auf Empfang gestellt: auf das Beobachten von See und Wald und das Aufnehmen des dichten Geräuschfiligrans, das von zahllosen Lebewesen erzeugt wurde – vom Zwitschern der Vögel zumal, dann und wann einem Flügelschlagen, einem Platsch ins Wasser. Irgendwann schließlich der rätselhafte Klang, den das sich spannende, hingegebene Hören wie eine sanfte Explosion aus dem sich verdichtenden Klanggeschehen vernahm. –  Dass es so etwas noch geben kann! Oft bin ich dort gewesen, stets fasziniert von diesem Natureindruck – und immer wieder recht erstaunt angesichts der Reaktion des Publikums –, bis schließlich die Busladungen mit Schulklassen dieser besonderen Atmosphäre ein Ende bereiteten.

Was mögen die Gründe für die bemerkenswerte Wirkung dieses Raumes auf die Besucher in diesem beliebtesten Pavillon des ganzen Expo-Geländes gewesen sein? Darüber lässt sich natürlich nur spekulieren, wobei immerhin das eigene Empfinden mit bedacht werden kann. Hier wurde im Prinzip vertrautes Terrain gezeigt. Und doch bot sich nicht das geringste Zeichen dar – kein Weg oder Steg, kein Ding -, das auf menschliche Einwirkung schließen ließ. Eine Welt, in der sich gleichwohl ungezählte Lebewesen, meist unsichtbar, zu Gehör brachten. Dieses kleine, spontan vertraute, höchst lebendige Universum, in dem wir nur Zeugen  sein durften, hat offenbar mit einem Male und hochwirksam das gewohnheitsmäßige Reden vergessen lassen und die Menschen in den Zustand staunend-nachdenklicher Rezeption versetzt.

Was auch immer bei dem je einzelnen Betrachter an Empfindungen und Gedanken aufgetaucht sein mag, zusammengenommen löste es eine Selbstvergessenheit aus, ein Vermögen, die Ich-zentrierte Kommunikation loszulassen. Ob sich bei dem einen oder der anderen schließlich auch ein Zurückgeworfenwerden auf sich selbst eingestellt hat –  etwa die Frage: Wer bin ich eigentlich wirklich?

Dieses Erlebnis schien mir einmal mehr ein Indiz dafür zu sein, dass eine merkliche Anzahl der hiesigen Menschen durchaus ein tiefliegendes Bedürfnis nach Stille des Herzens kennt und als wohltuend empfindet. Und noch etwas zeigte sich hier: Ein Stillwerden des Herzens ist mitnichten an äußere Geräuschlosigkeit geknüpft, sondern kann sich sogar inmitten einer intensiven Klangkulisse auftun.

Schmerzliche Konfrontation

Andererseits gibt es auch Situationen, in denen die Stille im Außen verunsichern, gar Angst hervorrufen mag, wie bei jenen Männern und Frauen, die aus diesem Grunde, sobald sie ihr Zuhause betreten, das Radio oder Fernsehgerät anschalten. Wiederholt geschah es auch schon, dass während des Führungsprogramms des hiesigen vietnamesischen Klosters mich nach einer kurzen, zehnminütigen stillen Meditation auf Stühlen eine Frau mit einem Huch! sowie einem impulsiven Kopfschütteln etwas erschrocken ansah. Offensichtlich stimmte in beiden Fällen das innere Erleben nicht mit der Stille des äußeren Raumes zusammen. Die heute so verbreiteten Phänomene der inneren Unruhe, unbewältigten Turbulenz oder verdeckte Einsamkeitsgefühle mögen die Ursache dafür sein.

Umgekehrt kann jemanden plötzlich eine derartige Stille von Herz und Geist überkommen, dass sie ihn aus dem Lärm der Welt hinaussetzt, ihn quasi davon abtrennt, dann nämlich, wenn ein einschneidendes Ereignis, etwa der Tod eines lieben Angehörigen, das Leben aus dem gewohnten Tritt bringt.

Vom Segen des Rückzugs in die Stille

In allen drei Fällen kann ein bewusster und erlernter Rückzug in äußere und innere Stille eine große Chance für die eigene Entwicklung darstellen. Buddhistische Zentren oder Tempel können innerhalb der städtischen Hektik, des Verkehrslärms und der gedrängten Fülle der visuellen und akustischen Reize geradezu als Oasen der Stille erlebt werden. Sie bieten einen idealen Ort, der ein wenig Abstand davon gewährt, um die kostbare Kunst zu erlernen, das Bewusstsein meditativ nach innen zu wenden. Aufgeregtheiten, Ruhelosigkeit und Sorgen lassen sich dort – in Begleitung eines erfahrenen Lehrers oder einer Lehrerin – erst einmal etwas abschwächen, und wohltuende innere Stille mag entfaltet werden.

Am einfachsten wird das Aufnehmen der Meditationsübung wohl für diejenigen sein, die bereits eine Sehnsucht nach eigenem Stillwerden spüren. So ist es für mich als Meditationslehrerin eine Freude, wenn Übende gleich zu Anfang, so, als hätten sie endlich einmal einen freien Atemzug getan, das Empfinden zum Ausdruck bringen, endlich das gefunden zu haben, wonach sie so lange gesucht hätten. Hin und wieder kommt es auch vor, dass sich sogleich lang angestauter, unbestimmter Druck zu lösen beginnt und die Tränen hochkommen. Solch einer natürlich vorhandenen Affinität zur stillen Meditation entspricht die Fähigkeit, die Bezüge nach außen zeitweilig aufzuheben.

Ein wohltuender geistiger Raum tut sich dann auf – beziehungsweise ein Raum, der über das dualistische Empfinden von Körper und Herz/Geist hinausgeht. Implizit mag dadurch bewusst werden, wie verengt und in Bahnen gelenkt unser geistig-emotionaler Haushalt durch die ständige Kommunikation mit dem Außen geworden ist, durch das Redenmüssen oder Redenwollen, das Arbeiten am PC, den Druck am Arbeitsplatz oder in der Arbeitslosigkeit, den beständigen inneren Dialog und nicht zuletzt durch die unmerklich die Nerven strapazierende städtische Geräuschkulisse. Im eigenen Empfinden tritt Weite an die Stelle von Beengung, Verspanntheiten von Körper und Geist vermindern sich allmählich oder lösen sich auf.

Ein Tor zu Wohlbefinden und Freude

Meister Dogen (1200-1253) fasste die Essenz des konzentrierten Sitzens in Stille, das wir in der Zen-Schule Zazen nennen, in die Worte: Zazen ist das Tor zu Wohlbefinden und Freude. Was aber meint hier Wohlbefinden? Zum einen stellt es sich im Körper ein. In der gesammelten aufrechten Sitzposition mit gekreuzten Beinen und zusammengelegten Händen kommen bei entsprechender Konzentration auf die Haltung und Atembewegung die Systeme des Körpers in einen ausgewogenen Zustand, namentlich die Muskulatur und das vegetative Nervensystem mit seinen gegensätzlichen Impulsen. Dem entspricht die subtil werdende Balance, die von der Sitzenergie aufrecht zu erhalten ist. Diese Faktoren durchdringen den ganzen Körper und werden als Wohlgefühl spürbar.

Auch der Geist kann – unterstützt von jenen körperlichen Prozessen – zu einer tiefen Ruhe kommen, da er dem Zwang enthoben ist, sich nach außen zu wenden, und sich auf wenige, jedoch elementare Dinge konzentrieren wird. Der Übende schult sich darin, das übliche Fortspinnen der Gedanken aufzugeben – eine Fähigkeit, die gar nicht einfach zu erlernen ist, sich aber um so entlastender auswirkt.

Bei intensiver Übung mag sich zunehmend eine leuchtende Klarheit des Geistes einstellen, die mit der Kraft der Ausgewogenheit auf die hochkommenden, Konflikte erzeugenden Gedanken und Gefühle zu schauen vermag, wodurch diese ihre Stärke verlieren, so dass dann recht, das heißt mit Besonnenheit und heilsam, gehandelt werden kann. All dies lässt wie von selbst Freude auftauchen, eine Freude der stillen, subtilen Art. In der höchsten, von Meister Dogen gemeinten Form wäre sie schließlich überweltlich zu nennen – die stille Freude des Nirvana, jenseits dessen, was wir gewöhnlich als ein Gefühl erleben, eigentlich mit keinem Wort auszudrücken.

Für diejenigen, die der Tiefendimension unseres Daseins, letztlich der großen Frage von Leben und Tod, Raum geben möchten, ist der Buddha-Weg mit seiner systematischen Schulung von Herz und Geist ein überaus kostbares Angebot, das zu höchstem Wohle führen und von jedwedem frei genutzt werden kann. Insbesondere sogenannte Retreats – im Zen sprechen wir von Sesshins -, mehrtätige Rückzugsperioden, in denen man sich gänzlich der Übung widmet, sind dazu angetan, wichtige, befreiende Einsichten zu gewinnen und vertiefte Erfahrungen der Stille zu machen, die allmählich auch das Alltagsleben in diesem Sinne verändern, es läutern und wesentlicher machen.

Bei der Zen-Übung stellen sich dann oft bereits nach wenigen Tagen bekannte Effekte ein, die jedoch nicht überbewertet werden sollen und an denen nicht gehaftet werden darf. Vor allem betrifft dies ein Subtilerwerden des Sehens und Hörens. Womöglich wird die ganze Natur staunend in einem Lichtglanz geschaut. Oder man nimmt sie plötzlich überrascht als von unglaublicher Ruhe erfüllt wahr. Solche anfänglichen Wirkungen sind kein Ziel des Übens, doch immerhin ein Anzeichen dafür, wie sehr das Erfahren der Außenwelt von unserer inneren Verfassung abhängt.

Recht heftig traf mich ein akustischer Effekt, als ich vor Jahrzehnten nach meinem ersten 10-tägigen Sesshin zu Hause wieder eine Kneipe betreten wollte! Die Musikbeschallung verursachte mir sofort derartige Pein, dass ich fortan nur noch sehr ausgesuchte Lokale besuchen konnte. Hat man einen bestimmten Grad innerer Stille verwirklicht, wirkt dies demnach als eine Art Abschirmung vor akustischen Störelementen. Ein Abstand wird erzeugt, der das Herz schützt und als wohltuend erfahren wird. Ein Problem hat mir diese unvermutete Einschränkung deshalb nicht bedeutet. Allerdings machte ich mir Gedanken darüber, welcher Art Nervenbelastung sich so viele junge Menschen gern aussetzen.

Ein besonderes Reden – ein besonderes Hören

Nicht nur Schweigen, sondern auch Reden kann Gold wert sein, wenn dadurch zum Beispiel die Lehre des Buddha vermittelt wird, und zwar in einer Weise, die uns direkt und zuinnerst anspricht. Dies mag anfangs durch irgendein Lehrelement ausgelöst werden oder aber geschehen, wenn ihr „Geschmack“, der Geschmack der Befreiung von allem Leiden, intuitiv erfasst wird, ohne dass bereits ihr systematischer Aufbau durchschaut werden könnte. Die Worte fallen dann quasi in die Stille unseres Herzens hinein, werden jenseits des bloß verstandesmäßigen Begreifens wie etwas Wunderbares aufgenommen. Sie treffen womöglich auf eine vorbewusste Sehnsucht nach einem Freiwerden von dem bisherigen, letztlich unbefriedigenden Streben und Mühen.

Im Zen gebrauchen wir für diese besondere Qualität des Redens und Hörens den Begriff von Herz zu Herz. Als eine dafür besonders günstige Lehrsituation hat sich der kurze, inspirierte  Lehrvortrag während des Zazen erwiesen, der zwar in Japan nicht üblich ist, jedoch von Meister Deshimaru in Europa eingeführt wurde. Oft bekam ich zu hören, dass dann, wenn Schüler wie LehrerIn in der konzentrierten Haltung des Zazen sitzen, Lehrworte und Hören nicht selten in dieser besonderen Weise zusammentreffen.

Serviere eine Schale Tee!

Diese Art Zusammentreffen ist auch die beste Basis für die Lehrer-Schüler-Beziehung, wenn es um die Vermittlung der Übungselemente geht: der Praxis des Zazen, der Übung des körperlichen Ausdrucks in Gesten und Haltungen sowie der zu erlernenden Tätigkeiten. Worten kommt hier bloß hinweisender Charakter zu. Sie mögen inspirieren, doch dann wird der Schüler oder die Schülerin die Ich-Zentriertheit abwerfen und die innere Stille entfalten müssen, in der sich das Erforschen des Sitzens vollzieht und in welcher sich die Qualität der Gesten und Handlungen nonverbal im Schauen auf den Lehrer vermittelt.

Aus der Stille des Körper/Geistes wird dann zum Beispiel das Servieren und Trinken einer Schale Tee zu einem noblen Zusammenspiel von wunderbar klarer Schönheit. Es versteht sich, dass hier ein Potenzial entwickelt wird, das sich nachfolgend segensreich im alltäglichen Leben manifestieren kann.

Zen-Meisterin Dagmar Doko Waskönig ist Dharma-Nachfolgerin von Gudo Wafu Nishijima Roshi und leitet das Zen Dojo Shobogendo in Hannover. www.shobogendo.de